Dialog mit einem Nussbaum
- Sheila
- 6. Okt.
- 4 Min. Lesezeit

Vor drei Tagen fragte ich meinen Partner, ob er keinen Nussbaum kenne, der auf öffentlichem Boden steht – einen, dessen Nüsse wir auflesen dürfen. Er verneinte und ich dachte nicht weiter darüber nach.
Gestern, beim frühmorgendlichen Sonntagsmarsch, stand er plötzlich vor uns: ein alter, stattlicher Nussbaum, tief verwurzelt, seine Äste weit ausgebreitet wie Arme, die die Welt umfangen. Die Erde war übersät von hunderten Nüssen. Und plötzlich spürte ich Traurigkeit. Wie blind sind die Menschen geworden, dachte ich. Sie treten auf Nahrung, auf das Geschenk des Lebens, ohne es zu erkennen.
Es fing an zu regnen und so standen wir unter sein Blätterdach, lauschten den Regentropfen und dem leisten Rascheln und Knistern der fallenden Nüsse. Etwas an diesem Ort berührte mich tief. Die Fülle, die niemand beachtete und das stille Geben dieses alten Wesens. Ich legte die Hand an seinen Stamm und schloss die Augen.
„Wie traurig“, flüsterte ich. „So viel Fülle, und niemand sieht sie. Die Menschen fahren achtlos darüber, treten deine Gaben nieder. Haben sie vergessen, was Nahrung ist? Was Geschenk bedeutet?“
Der alte Baum schwieg lange. Nur der Wind bewegte leise seine Zweige. Dann spürte ich, wie etwas tief und ruhig in mir antwortete, wie eine Stimme, die nicht mit Worten spricht:
„Erdenkind, ich kenne keine Trauer, nur Kreislauf. Was fällt, nährt. Was nicht gesehen wird, wird Erde. Ich trage die Fülle, weil Fülle mein Wesen ist und nicht, weil sie geerntet werden muss. Die Menschen sind nicht blind, sie sind satt von all dem anderem. Wenn sie einst wieder hungern, nach Sinn, nach Nähe und nach Ursprung, dann werden sie mich wieder sehen. Du aber siehst mich. Und das genügt. Nimm, was du tragen kannst. Und hinterlasse den Rest den Vögeln, den Mäusen, dem Boden. Alles findet seinen Weg."

Ich stand still und lauschte. In mir legte sich etwas zur Ruhe. Vielleicht war es gar nicht Trauer, was ich fühlte, sondern Staunen über die Grosszügigkeit eines Wesens, das einfach gibt, ohne zu fragen, wer nimmt. Mir kam es vor wie in einem Märchen, in denen Bäume sprechen und ihre Weisheit den Menschen zuflüstern. Der Nussbaum ist so ein Baum: Hüter alter Erkenntnis, Wächter zwischen Erde und Himmel.
Baum der Erkenntnis und des Schutzes
Der Nussbaum wirkt kraftvoll und ehrwürdig. Oft steht er allein, als wolle er Raum für sich und seine Ausstrahlung beanspruchen. Im Volksglauben galt er als Schutzbaum und als Schwellenbaum. Einer, der zwischen den Welten steht, der Himmel und Erde verbindet. Unter seinen Ästen zu ruhen hiess, in den Bann seines Geistes zu treten. Wer dort träumte, empfing Einsichten oder Botschaften.
Die Nuss, verborgen in ihrer harten Schale, war seit jeher ein Symbol für das Geheimnis des Lebens. Sie erinnert uns daran, dass Erkenntnis oft gut gehütet ist. Man muss Schicht um Schicht ablegen, um zum wahren Kern zu gelangen. So wie der Baum seine Früchte nur im Herbst freigibt, wenn die Zeit reif ist, offenbart sich auch Weisheit erst, wenn wir bereit sind, sie zu empfangen.
Die Energie des Nussbaumes
In seiner Ausstrahlung liegt eine besondere Mischung aus Klarheit und Tiefe. Er schenkt Standfestigkeit, zugleich aber auch den Mut, sich von Altem zu lösen. Die Nuss ist Nahrung für Körper und Geist, reich an Ölen, Wärme und Lebensenergie. Spirituell unterstützt uns der Nussbaum dabei, das eigene Denken zu klären, den Kern der Wahrheit zu erkennen und Abgrenzung zu finden.
Sein Schatten gilt als stark und dicht. Manche sagten, man solle sich nicht zu lange darunter aufhalten, um nicht von seiner Macht überwältigt zu werden. Doch wer seine Präsenz in Achtsamkeit betritt, spürt, dass dieser Schatten kein Dunkel ist, sondern Schutz, fast wie ein Mantel aus alter Weisheit.

Symbolik und Brauchtum
In alten Zeiten wurde die Nuss bei Hochzeiten gestreut. Sie stand für Fruchtbarkeit, Wohlstand und Segen. In anderen Überlieferungen wurde der Nussbaum mit der Unterwelt und der Göttin Hekate in Verbindung gebracht. Sie ist die Hüterin der Übergänge und Schwellen. So vereint er Leben und Tod, Licht und Schatten, Schutz und Prüfung in sich.
Auch die Form der Nuss erinnert an das menschliche Gehirn, als Sinnbild für Bewusstsein und Erkenntnis. Der Nussbaum ruft uns auf, unser Denken zu weiten, uns von überholten Mustern zu lösen und tiefer zu sehen, sowohl hinter die Oberfläche als auch in den Kern.
Er lehrt Geduld, Vertrauen und das Wissen, dass jeder Schatz in uns bereits vorhanden ist. Nur ist dieser manchmal noch von einer harten Schale umhüllt.
Räuchern mit dem Nussbaum
Mit den Blättern, der Rinde und dem Holz in Form von Spänen oder kleinen Stücken kann man wunderbar räuchern. Ein Nussbaum bleibt immer ein Nussbaum. Doch seine Blätter flüstern, seine Rinde mahnt, und sein Holz erzählt Geschichten in tiefer Stille.
Das Laub trägt die leichte, atmende, kommunikative Seite des Baumes. Es schwingt mehr im Element Luft, wirkt öffnend und klärend. Beim Räuchern spricht es die Schichten an, die mit Denken, Bewusstsein und Wandlung zu tun haben.
Die Rinde verkörpert den Schutz, die Grenze, das „Ich-bin“. Sie steht zwischen innen und aussen, eine Energie der Abgrenzung, aber auch der Transformation. Beim Räuchern öffnet sie Zugänge zu Themen wie Identität, Selbstschutz und Loslassen alter Häute.
Das Holz ist der Kern, die dauerhafte, tragende Kraft. Es trägt die tiefe, erdende Schwingung des Baumes. Beim Räuchern öffnet es die Tore nach innen, schenkt Ruhe und Zentrierung.
Diese Begegnung mit dem alten Nussbaum hat eine Spur in mir hinterlassen. Etwas in mir wurde ruhiger, geerdeter, wissend, dass alles seinen Rhythmus hat.
Nun trocknen die Nüsse im warmen Kachelofen. Bald werden sie geknackt, Stück für Stück, so wie sich auch die Erkenntnisse langsam öffnen, Schale um Schale. Im Müesli am Morgen wird dann ein Stück dieses Moments weiterleben: Nahrung für den Körper, Erinnerung für die Seele.
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